Indien, das Land der IT-Experten,
zeigt sich in ländlichen Regionen
von einer ganz anderen Seite. Lediglich
68 Prozent der Männer und
45 Prozent der Frauen des Landes
können lesen und schreiben. Viele
Kinder besuchen nie eine Schule,
sie bleiben zuhause, um zu arbeiten.
Bildung erscheint vielen Indern
insbesondere für die Mädchen unsinnig,
da sie meist schon früh verheiratet
werden und sich um Haus
und Kinder kümmern sollen. Hinzu
kommt, dass beispielsweise in den
weitläufi gen Regionen Rajasthans
im Umkreis von etwa 200 Kilometern
nur eine Schule existiert, die oft
auf männliche Schüler begrenzt ist.
Da in dieser Wüstengegend der Kamelkarren
meist als einziges Fortbewegungsmittel
in Frage kommt, mit
dem bereits 50 Kilometer aufgrund
der unwegsamen Sandpfade kaum
an einem Tag bewältigt werden
können, haben Kinder aus entlegenen
Gebieten keine Möglichkeit,
eine Schule zu besuchen.
Aufgrund dieser Situation hat
die Entwicklungshilfeorganisation
Plan International in Zusammenarbeit
mit einer in Rajasthan agierenden
NGO namens Urmul Trust, in
Lunkaransar, einem Dorf etwa 70
Kilometer nördlich der Stadt Bikaner,
seit 1998 ein Camp für Mädchen
aufgebaut. Im „Balika Shivir“,
wie sie das Projekt genannt
haben, sollten alle Mädchen auch
die aus entlegeneren Regionen, für
einige Monate leben und lernen
können.
Um das Projekt durchzuführen,
brauchten die Mitarbeiter viel Geduld
und Durchhaltevermögen. Es
dauerte lange, bis die ersten Familien
ihre Töchter oder Schwiegertöchter
in die Obhut der Fremden
gaben, zudem die meisten Mitarbeiter
von Urmul Trust Männer
sind. Es gab zwar einige Lehrerinnen,
die sich um die Mädchen
kümmerten, dennoch fi el es den
Eltern schwer, Vertrauen zu der
Organisation zu fassen.
Für die Kinder, die oft nicht weiter
als bis zum nächsten Markt gereist
sind, um die landwirtschaftlichen
Jahreserträge zu verkaufen, ist
der lange Aufenthalt fern der Eltern
nicht minder erschreckend als für
die Eltern. Sie sehen fremde Menschen,
hören mitunter fremde Dialekte
und werden in einen vollkommen
neuen Tagesablauf eingefügt.
Mittlerweile hat Balika Shivir jedoch
seine Vertrauenswürdigkeit
bewiesen und immer mehr Familien
geben ihre Töchter in die Obhut
der Campleiter.
Die Mädchen verlieren ihre
Scheu rasch und fi nden Gefallen
am gemeinsamen Lernen, Essen
und Singen mit den rund 300 anderen
Mädchen und jungen Frauen. In
einem Achtstundentag werden hier
Englischunterricht, Rechnen, Hygienekurse
und gemeinsamer Gesang
und Tanz eingepasst – und die
Mädchen würden am liebsten noch
weiterlernen, so viel Spaß macht es
ihnen.
Durchschnittlich ein halbes
bis zu einem Jahr bleiben die
Mädchen im Camp, schlafen auf
mehrere große Räume verteilt
auf Decken und schließen enge
Freundschaften mit Gleichaltrigen
aus Regionen, die weit von ihrem
Heimatdorf entfernt sind – es ist
unwahrscheinlich, dass sie sie
nach der Schulzeit noch einmal
wieder sehen.
Die Schule gibt den Mädchen
eine reelle Chance auf dem Arbeitsmarkt,
die meisten jedoch werden
auch nach dieser Bildungszeit keine
Arbeit annehmen, sondern zuhause
bei ihren Familien bleiben. Aber
auch dort macht sich die positive
Wirkung der vergangenen Monate
bemerkbar, denn die Mädchen können
ihren Familien beim Errechnen
der Preise für das geerntete Getreide
helfen; sie wissen, wie wichtig
es ist, die Umgebung des Hauses
sauber zu halten und auch die hygienischen
Regeln im Umgang mit
kleinen Kindern beherrschen sie.
All das ist in den ländlichen
Regionen Indiens nicht selbstverständlich.
Die Kindersterblichkeit
ist sehr hoch und selbst die grundsätzlichen
Maßnahmen zur Abwendung
einfacher Infektionen sind unbekannt.
Urmul Trust betreut viele
Dörfer um Lunkaransar und klärt
ihre Bewohner über die Wichtigkeit
der Hygiene auf, um auch diejenigen,
die nicht in ihr Mädchencamp
kommen können, zu erreichen.
Bei dem Besuch eines Dorfes, das
erst vor kurzem in das Programm
der Organisation hineingenommen
wurde, wurde der Unterschied zu
den Dörfern, die schon seit längerem
von Urmul betreut wurden,
deutlich. Hier lagen kleine Kinder
auf dem Boden, steckten sich alte
Knochenreste in den Mund, die sie
wohl irgendwo gefunden hatten.
Ihre Haut war übersät von Fliegen
und ein etwa zweijähriger Junge
konnte sein rechtes Auge nicht
mehr öffnen, es war vollkommen
vereitert und zugeschwollen. Balika
Shivir und die Hygienebetreuung
sind nicht die einzigen Projekte
von Urmul Trust. Sie haben zum
Beispiel den Bau von Getreidespeichern
in verschiedenen Dörfern
in Rajasthan eingeleitet, versuchen
die alten Gesellschaftsstrukturen zu
lockern und unterstützen insbesondere
die benachteiligten Schichten.
Sie betreuen die Dörfer in wirtschaftlichen
Fragen und bieten erste
Hilfe bei Dürreperioden.
Im Jahr 2002 habe ich mehrere
Wochen in Lunkaransar verbracht.
Ich lernte, wie man Teller mit Sand
wäscht, weil Wasser in der Wüste
ein so kostbares Gut ist und dass
man Wespen ruhig auf der eigenen
Haut herumkrabbeln lassen kann.
„Tiere sind unsere Brüder, wenn
wir sie lassen, werden sie uns nichts
tun,“ sagte mir ein Projektmitarbeiter
damals. Die meisten Bewohner
Lunkaransars waren strenge Vegetarier,
lebten auf engsten Raum mit
ihren Nutztieren, Hunden, Hühnern,
Kühen sowie Kamelen und waren
ebenso von den Tieren abhängig,
wie die Tiere von ihnen.
Deepak, der Projektmitarbeiter,
arbeitete schon seit einigen Jahren
an den Projekten von Urmul Trust.
Am Anfang unterrichtete er die
Mädchen an der Mädchenschule
selbst, bis er einige soweit ausgebildet
hatte, dass sie selbst den Unterricht
weiterführen konnten. Er
selbst stammt eigentlich aus Delhi,
hat aber mit Urmul Trust seine Lebensaufgabe
gefunden. Er heiratete
eine Dorfbewohnerin und jeden
Tag, wenn er seine Arbeit an den
Projekten erfüllt hat, unterrichtete
er seine Frau in Mathematik.
Täglich fuhr ich mit ihm und
einigen Kollegen zu einem weiteren
Ort, der unter der Obhut der
Organisation stand. In Kalu, einem
etwa 50 Kilometer entfernten
Dorf, hielten wir bereits außerhalb
der Dorfmauern, vor zwei kleinen
Häusern, die, wie hier üblich, aus
getrocknetem Kuhdung bestanden.
Die Häuser hatten keine Türen nur
Öffnungen in der Wand und als der
Motor unseres Jeeps aufröhrte, liefen
einige Ziegen aus dem einen
Haus. Ich erfuhr, dass es sich hier
um zwei Familien der „Unberührbaren“
handelte, der Kastenlosen, die
von den anderen Bewohnern nicht
innerhalb der Dorfmauern geduldet
wurden. Deepak erzählte, dass er
die Dorfältesten davon überzeugen
wollte, diese Tradition aufzugeben,
aber dass dies schwer zu erreichen
sei. In Kalu gab es schon eine kleine
Dorfschule, in der Mädchen und
Jungen zusammen unterrichtet wurden,
was ohne Urmul Trust nicht
möglich gewesen wäre.
In einem anderen Dorf wurde ich
dem Dorfältesten vorgestellt und er
erzählte mir, dass ihn seine Enkelin
nun immer zum Markt begleitete,
wenn er sein Getreide verkaufen
wollte. Da sie als einzige Rechnen
gelernt hatte, konnte sie die Rechnung
der Händler kontrollieren und
leistete so dem gesamten Dorf eine
große Hilfe.
Ein weiteres Projekt, das Urmul
Trust ins Leben gerufen hat, ist
die Anleitung zur Schaffung von
Kunsthandwerk. Wenn die Ernte
aufgrund von Dürre ausfi el, mussten
die Wüstenbewohner früher
hungern. Der Verkauf von Stoffen
und Kunsthandwerk gab ihnen eine
Alternative, Geld zu verdienen.
Unmittelbar vor dem Schulgebäude
in Lunkaransar standen mehrere
Webstühle, an denen Tag für Tag
einige Männer des Dorfes arbeiteten.
Eine südindische Designerin,
Nandini, übernahm es, ihnen das
Weben beizubringen und die Muster
und Farben der Stoffe festzulegen.
Sie war 23 Jahre alt und eigentlich
für ein indisches Mädchen zu alt
zum Heiraten, wie sie mir in einer
ruhigen Minute lachend mitteilte.
Sie wohnte in einem kleinen Haus,
das aus drei Räumen bestand: Ein
großer Wohnraum, Küche und Dusche
mit Plumpsklo. Als ich während
meines Aufenthaltes in Lunkaransar
bei ihr einquartiert wurde,
überließ sie mir ihr Bett – eine Fläche
aus gefl ochtenen Seilen, die an
einem Holzgestell befestigt waren
und schlief selbst auf einer Decke,
die sie auf dem Steinboden ausbreitete.
Sie stammt aus Kerala und
wuchs in einer aufgeklärten Familie
auf. Ihre Eltern hatten nichts dagegen,
dass ihre Tochter selbständig
war und für ihre Arbeit quer
durch Indien reiste. Alles, was sie
forderten, war, dass sie im nächsten
Jahr endlich heiratete und davor
fürchtete sie sich, erzählte sie mir.
Als ich zwei Jahre nach meinem
Aufenthalt in Indien Lunkaransar
erneut besuchte, erfuhr ich. dass sie
mittlerweile in Namibia lebt und
bei einer anderen NGO arbeitete.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass
mit Bildung Grenzen überwunden
werden können.
Fernab der Zivilisation führen
die Menschen in Indien ein Leben,
das aus westlicher Sicht kaum vorstellbar
ist, weil es für uns zur Vergangenheit
gehört. Bildung, Hygiene
und Freiheit sind Wertgüter, die
hierzulande als Selbstverständlichkeit
gelten. Wir realisieren nicht
mehr, dass unser gesamtes Leben
darauf aufbaut.
Urmul Trust und Plan International
haben sich zum Ziel gesetzt,
die Bevölkerung Rajasthans für
diese wertvollen Güter empfänglich
zu machen, um ihr Leben
zu verbessern. Dieses Vorhaben
braucht seine Zeit, aber ganz langsam,
über die Generationen hinweg
werden sie in Indien einiges
Bewegen. ■